Hab ich es geraubt?

Warum sprach mein vierjähriger Sohn nicht beim Kinderarzt?

Weshalb Kinder Fähigkeiten, die sie gut beherrschen, manchmal verstecken. Lesen Sie hierzu einen Hintergrundsartikel.

 

Stellen Sie sich folgende Situation vor:

Wir gingen zum Kinderarzt, mein 4-jähriger Sohn war nicht krank, es ging um eine Entwicklungskontrolle. Der Arzt stellte ihm viele Fragen. Merkwürdigerweise redete mein Sohn nichts, sagte nicht mal ja oder nein, nickte nur oder schüttelte den Kopf. Dann fiel er dem Arzt noch um den Hals und umarmte ihn wie ein Baby. Mir war es peinlich, der Arzt wurde etwas ungehalten, er dachte wohl, er werde zum Narren gehalten. Er brachte meinen Sohn nicht zum Reden. Sonst redet er wie ein Buch, erfindet Geschichten und ist überhaupt stolz auf seine Sprache. Sobald wir draussen waren, sprach er wieder. Mir ist das ein Rätsel!

Lesen Sie hier mehr über die Hintergründe des Verhalten - so verstehen Sie Ihr Kind besser.

Der Sohn hat sich wohl ernsthaft Gedanken darüber gemacht, warum er denn zum Arzt muss, wenn er doch nicht krank ist. Er hat sicherlich danach gefragt. Wahrscheinlich haben die Eltern ihm vor dem Arztbesuch erklärt, der Arzt wolle sehen, was er denn schon alles könne. Nun zeigte er dem Arzt aber nicht, was er besonders gut kann, nämlich reden. Das erscheint uns paradox, weil wir doch normalerweise sehr gerne zeigen, was wir gut können.

Wenn wir davon ausgehen, dass das Verhalten unserer Kinder Sinn macht, aber wir nicht alles verstehen, was in ihnen vorgeht, müssen wir fragen: In welcher Situation wäre das Verstecken von etwas angebracht? Das trifft für alle Situationen zu, in denen wir eine negative Reaktion erwarten, zum Beispiel Schimpfen, eine Strafe oder ein wütender Arzt. Der Sohn machte sich also nicht lustig über den Arzt, sondern hatte Angst vor dieser förmlichen Situation und dem Urteil des Arztes. Davor, dass etwas Unangenehmes für ihn herauskommen könnte. Wir empfinden es als absurd, dass das Kind eine Fähigkeit, auf die es stolz ist, versteckt vor einer „höheren Instanz“.

Um das Rätsel zu lösen, müssen wir wiederum allgemein fragen:

Gibt es Dinge, die man sich zwar stolz angeeignet hat, die man sich aber in gewissen Situationen nicht zu zeigen wagt?

Meines Wissens gibt es darauf nur eine Antwort: „Diebesgut“. Kann es sein, dass der Sohn in einer Ecke seiner Seele seine Sprache, die er von andern schnell und geschickt übernommen hat, als gestohlenes Gut ansieht? Diese Folgerung mag Sie überraschen, aber damit steht er nicht alleine! Kinder übernehmen die Sprache der Eltern, sie „eignen sich die Sprache an“. Das wird im Innern als Raub empfunden, als ob man es dem andern weggenommen hätte. Das tägliche Erleben, dass die Eltern immer noch sprechen können, ihnen also nichts weggekommen ist, hat keinen Einfluss auf die unbewusste Überzeugung, dass man es genommen hat.

Der Triumph, den das Kind beim Beherrschen jeder neuen Fähigkeit empfindet – „jetzt habe ich es“ – nährt das Schuldgefühl, das in der Angst, man könnte als Dieb entlarvt werden, zum Ausdruck kommt. Dagegen werden Vorsichtsmassnahmen ergriffen: Er umarmt den Arzt wie ein Baby. Babys haben noch nichts gestohlen, die können ja noch nichts. Damit will er dem Arzt zeigen, er sei noch so unschuldig wie ein Kleinkind. Die Psychoanalytikerin J. Le Soldat wies nach, dass wir alle im Unbewussten unser Wissen und unsere Fähigkeiten als von einer andern Person gestohlenes Gut betrachten und der Überzeugung sind, es sei zwar bis jetzt noch nicht ausgekommen, aber jede genauere Prüfung könnte den Raub an den Tag bringen und würde Strafe nach sich ziehen.

Prüfungsängste und Versagen sind ein gutes Beispiel dafür: Wenn man das Gefühl hat, der Prüfer halte Ausschau nach dem Gut, das man gestohlen hat, ist es das Beste, man zeigt sein Wissen nicht. Man fällt vielleicht durch die Prüfung, aber das erscheint dem Innern als kleineres Übel, viel wichtiger ist, dass man nicht entdeckt wird.

Es ist unmöglich, diese Überzeugung, man sei ein unentdeckter Dieb, der das Ertapptwerden fürchten muss, aus dem Unbewussten zu entfernen. Es ist unsere Aufgabe als Eltern oder Erziehende, unseren Kindern das Wissen um das Paradoxe in unseren Seelen früh beizubringen. Bei diesem Kind genügt es, wenn die Eltern ihm gelegentlich sagen, es sei Ihnen aufgefallen, dass er beim Arzt nicht gesprochen habe, sonst mache er das ja so gerne und gut. Ob er vor dem Arzt denn Angst gehabt habe?

Vielleicht ist Ihnen bei der Lektüre ein eigenes Beispiel in den Sinn gekommen. Erzählen Sie es Ihrem Kind in solchen Fällen, dass sie dieses Phänomen auch kennen. Es braucht kein langes Gespräch, es ist auch nicht wichtig, ob er bejaht oder verneint. Wichtig ist nur, dass er hört, dass er Angst hatte, weil er etwas konnte und damit auf Verständnis trifft. Das Paradox ist damit benannt und verliert damit an Schrecken. Je besser wir Bescheid wissen, wie unser Unbewusstes „denkt“ und sich bemerkbar macht, desto einfacher fällt uns das selbstbewusste Zeigen von Fähigkeiten und Fertigkeiten.

 

Von Elisabeth Geiger, nach der Theorie von J. Le Soldat 1994  

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